Philip Manow (2024): Unter Beobachtung

Shownotes

Verfassungsgerichte sollen Freiheit schützen – doch ihr Einfluss erzeugt neue politische Reibungen. Der Politikwissenschaftler Philip Manow legt in „Unter Beobachtung“ nahe: Populismus kommt nicht von außen, sondern wächst im Inneren liberaler Demokratien, als Reaktion auf eine immer stärker „verrechtlichte“ Politik. Manows Diagnose führt zu einer provokanten Frage: Kann zu viel Recht der Demokratie schaden?

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00:00:00: Eine Buchessenz der Friedrich Ebert Stiftung.

00:00:09: Unter Beobachtung.

00:00:10: Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde.

00:00:14: Von Philipp Manow.

00:00:16: Erschienen im Surgkampfverlag Berlin.

00:00:20: Kurz gefasst und eingeordnet von Hannah Fad.

00:00:25: Buchessenz.

00:00:28: Kernaussagen.

00:00:30: Die gegenwärtig dominante Form der Demokratie.

00:00:33: Die liberale Demokratie ist nicht mit der Demokratie schlechthin gleichzusetzen, sondern eine spezifische westeuropäische Form von Demokratie, die historisch bedingt und durch ein besonderes institutionelles Gefüge gekennzeichnet ist.

00:00:50: Die liberale Demokratie ist eine repräsentative Demokratie mit einem Verfassungsgericht, das die Entscheidungen parlamentarischer Mehrheiten aushebeln kann.

00:01:00: Viele der Probleme, vor denen liberale Demokratien gegenwärtig stehen, sind nur vor dem Hintergrund dieser Institutionen und der durch sie provozierten Konflikte verständlich.

00:01:12: Wenn Verfassungsgerichte zunehmend politische Entscheidungen aushebeln, formieren sich früher oder später Gruppen, die gegen diese Macht der Verfassungsgerichte mobilisieren.

00:01:22: Wenn die Unabhängigkeit von Gerichten heute um Kämpfter erscheint als früher, dann liegt das nicht nur am Aufstieg antidemokratischer Kräfte, sondern auch daran, dass die Gerichte politischer geworden sind.

00:01:34: Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen der Ausweitung institutioneller Schutzzonen und der Ausweitung politischer Kampfzonen.

00:01:42: In diesem Sinne ist der Populismus eine Krankheit, welche die liberale Demokratie nicht von außen hier befällt, sondern von ihr selbst hervorgebracht wird.

00:01:53: Ein Ordnung aus Sicht der sozialen Demokratie.

00:01:58: Ein zentrales Anliegen der sozialen Demokratie in Deutschland ist es, die Demokratie zukunftssicher und krisenfest zu machen.

00:02:06: Unter anderem wird versucht, illiberalen und autokratischen Kräften mit Änderungen im Grundgesetz sowie im Bundesverfassungsgerichtsgesetz die Möglichkeit zu nehmen, den Rechtsstaat von innen heraus zu unterlaufen.

00:02:19: Es soll verhindert werden, dass unabhängige Gerichte gezielt ausgehebelt werden, um so die eigene Agenda ohne Widerspruch durchsetzen zu können.

00:02:28: Mano stellt mit seinem Buch in Frage, ob die Erfolgsaussichten dieser Strategie wirklich so gut sind, wie allgemein angenommen, und leistet somit einen wichtigen Beitrag zur Debatte der allen Demokraten.

00:02:40: Also auch der sozialen Demokratie willkommen sein muss.

00:02:46: Buchautor Philipp Mano, geboren in den letzten Jahren, ist Politikwissenschaftler und Professor für internationale politische Ökonomie an der Universität Siegen.

00:02:59: Seine Bücher, die politische Ökonomie des Populismus, und Entdemokratisierung der Demokratie, sind als Beiträge zur Populismus-Debatte breit rezipiert worden.

00:03:15: Buch, Inhalt.

00:03:18: Manu beginnt mit der Feststellung, dass Demokratie als Herrschaftsform sowie unser Verständnis von Demokratie nur historisch zu verstehen sind.

00:03:26: Demokratie ist kein zeitloser Begriff und keine gefestigte Ordnung, sondern ein Projekt mit offenem Ende, das institutionell wie konzeptionell fortwährend in Entwicklung begriffen ist.

00:03:38: Zwischen den unterschiedlichen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft gibt es in Demokratien immer einen Wettkampf um politische Vorherrschaft und damit auch um die richtige Interpretation von Demokratie.

00:03:51: Während Mehrheiten das Majoritätsprinzip in den Vordergrund stellen, betonen Minderheiten den Minderheitenschutz und die Gefahr einer Tyranny der Mehrheit.

00:04:01: Die Mehrheit will durchregieren, die Minderheit genau das verhindern.

00:04:06: In Demokratien haben also alle ein Interesse daran, ihre spezifische Vorstellung von Demokratie zur universellen Vorstellung von Demokratie zu erheben.

00:04:15: Dies ist der zentrale Grund für die prinzipielle Umstrittenheit des Konzepts, der auch erklärt, warum es nicht möglich ist, zu dem richtigen Verständnis von Demokratie zu gelangen und den Grad von Demokratisierung einer Gesellschaft objektiv zu messen.

00:04:32: Wichtig ist vielmehr die Begriffsgeschichte der liberalen Demokratie nachzuzeichnen.

00:04:37: Bis Nineteinundundneunzig galt die Idee der liberalen Demokratie, also eines Kompromisses zwischen dem Mehrheitsprinzip und der Volkssouveränität auf der einen Seite, sowie dem Liberalismus mit seinem Fokus auf Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, subjektiven Rechten und Beschränkungen von Herrschaft auf der anderen Seite als normativer Zielpunkt historischer Entwicklungspfade.

00:05:02: Historisch entstand dieses Konzept als Gegengewicht zu einer unausgewogenen Vorherrschaft des Volkes, der Institutionen wie Menschenrechte, Verfassungsgerichte, Gewaltenteilung und Autonomie der Zentralbanken entgegengesetzt werden sollten.

00:05:18: Im Zuge dieses historischen Prozesses kam es schließlich zu dem, was Mano Konstituzionalisierung nennt.

00:05:25: Also dazu, dass die Verfassung Vorrang vor dem Gesetz hat.

00:05:28: Und dass es mit dem Verfassungsgericht eine Institution gibt, die diesen Vorrang sichert.

00:05:35: Zentrale Merkmale konstituzionalisierter Demokratien sind das Recht zum Parteienverbot und die verfassungsrechtliche Überprüfung von parlamentarisch beschlossenen Gesetzen.

00:05:47: Konkret bedeutet das, dass politische Entscheidungen an nicht-majoritäre Institutionen delegiert werden und dass es innerhalb demokratischer Gesellschaften nicht mehr zu einer Selbstkorrektur in Form von Wahlen oder über das Regierung-Opposition-Schema kommt, sondern dass diese Korrekturen von außen vorgenommen werden.

00:06:07: Heute gilt dieses Verständnis von Demokratie als ein in sich ruhendes, institutionelles Gefüge, das als unsodemokratischer gilt, je liberaler es ist, oft als unhinterfragter Maßstab.

00:06:21: Auch in den Populismus- und Demokratiegefährdungsdebatten der Gegenwart ist es zur zentralen Referenz geworden.

00:06:28: Entsprechend geht laut dem gegenwärtig bestimmenden Narrativ die größte Gefahr für die Demokratie von Wahlen aus.

00:06:36: Die Demokratie muss also vor sich selbst geschützt werden.

00:06:40: Durch die Abschwächung elektoraler Elemente, entweder durch die Abwertung von Wahlen oder die Aufwertung deliberativer Elemente sowie durch Institutionen, die maximal unabhängig von gewählten Repräsentanten und damit vom wählenden Volk agieren.

00:06:56: Kurz, die Demokratie müsse unter Beobachtung gestellt werden.

00:07:02: Manowiderspricht.

00:07:03: Seine Kernthese lautet, dass es genau diese Einschränkung des Politischen im Namen einer umfassenden institutionellen und rechtlichen Beschützung und Begrenzung von Demokratie ist, wogegen die Populisten zunehmend aufbegehren.

00:07:17: Wo es Verfassungsgerichte gibt, kann man auch darauf hinwirken, sie wieder abzuschaffen.

00:07:22: Insbesondere dort, wo sie ihre neu entstandene Machtfülle kontinuierlich dazu nutzen, politische Mehrheiten zu konterkarieren, werden Anreize geschaffen, ihre Macht einzugrenzen, sie unter Kontrolle zu bekommen oder personell zu kapern.

00:07:37: Die liberale Demokratie hat sich ihre Feinde selbst erschaffen.

00:07:42: Populismus ist eine Krankheit, die durch ein neues konstitutionelles Design der Demokratie hervorgerufen wird.

00:07:49: Diese These wird anhand historischer Betrachtungen untermauert.

00:07:53: Der Aufstieg des Modells einer umfassend konstituzionalisierten Demokratie erfolgte in Europa in mehreren Wellen und betrifft nicht alle europäischen Staaten gleichermaßen.

00:08:04: So kam es in den Niederlanden, Skandinavien oder Großbritannien bis heute zu keiner Konstituzionalisierung und zwar schlicht deshalb nicht, weil die Demokratien dort seit ihrer Etablierung stabil waren.

00:08:17: Zu Konstituzionalisierungen kam es nur in Ländern mit historisch anderen Erfahrungen.

00:08:22: So war die erste Welle in Deutschland und Italien mit ihren totalitären Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs sowie die zweite, in den bis in die neunzehntiebziger Jahre hinein diktatorisch regierten südeuropäischen Ländern Griechenland, Spanien und Portugal zu beobachten.

00:08:39: Zur dritten Welle von Konstituzionalisierungs-Schüben in Europa kam es schließlich im Zuge der Auflösung des Ostblocks nach.

00:08:49: An diesen Ländern illustriert Mano seine Thesen.

00:08:53: Die Transformationsgesellschaften in Ost-Mitteleuropa versuchten, mithilfe der Verfassungsgerichte ihre Übergangsprozesse zu entpolitisieren, irreversibel und berechenbar zu machen.

00:09:05: Es wurden Verfassungen geschrieben und mächtige Verfassungsgerichte installiert, die in Zeiten radikaler politischer und ökonomischer Umbrüche mit Hilfe weitreichender Normenkontrollkompetenzen stabilisierend wirken sollten.

00:09:19: Tatsächlich agierten die Verfassungsgerichte in vielen Staaten Ost-, Mitteleuropas, besonders in Ungarn, aber nicht als neutrale Hüter der Rechtsstaatlichkeit, sondern eher als politische Akteure mit eigener Agenda.

00:09:33: Möglich war dies unter anderem auch deshalb, weil sich die Parteiensysteme in diesen Ländern zu dieser Zeit noch mitten im Konsolidierungsprozess befanden.

00:09:42: Die daraus resultierende hohe Volatilität im Parteiensystem und in den Regierungszusammensetzungen verhinderten, dass sich das für das Funktionieren von Demokratien unverzichtbare Gleichgewicht zwischen Recht und Politik einstellen konnte.

00:09:59: Im Regelfall handeln Verfassungsgerichte im Rahmen gewisser politischer Grenzen.

00:10:04: Sie können im Einzelfall aber nicht permanent politisch umstrittene Urteile fällen, weil sie selbst Schaden nehmen, wenn ihre Entscheidungen systematisch von der Politik kontakariert werden.

00:10:15: Aus Eigeninteresse müssen Verfassungsgerichte also beständig politische Mehrheiten antizipieren.

00:10:22: Umgekehrt liegt es im Eigeninteresse der Politik zu berücksichtigen, in welchem juristischen Möglichkeitenraum sie sich bewegt.

00:10:30: Diese beidseitige Selbstbeschränkung, die MANO Autolimitation nennt, führt zu einer Verschränkung von juristischer Berücksichtigung des politischen und politischer Berücksichtigung des juristischen.

00:10:43: Auf diese Weise entwickelt die Gewaltenteilung ihre Wirkung.

00:10:48: Das Institutionensetting auf supranationaler Ebene der EU bringt diese Verschränkung jedoch ins Ungleichgewicht.

00:10:56: Denn der EUGH, der Gerichtshof der Europäischen Union, kann in beispielloser Autonomie entscheiden und alle Gerichte der einzelnen EU-Mitgliedsländer können an dieser einzigartigen Abschirmung des Rechts vor politischen Kräften teilhaben.

00:11:11: Diese europarechtliche Exitoption erhöht die Konfliktbereitschaft der nationalen Gerichte.

00:11:17: Die Konflikte mit der Exekutive intensivieren sich.

00:11:21: Zugleich entsteht aber auch der Eindruck, diese Konflikte würden zwischen einer der eigenen Wählerschaft verpflichteten Regierung und einer sich auf die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit berufenden europäischen Seite ausgetragen.

00:11:36: Die Anreize zur Autolimitation sind damit auf beiden Seiten ausgesetzt.

00:11:42: Die Demokratie gerät also möglicherweise umso mehr in die Krise, je mehr politische Entscheidungsbereiche dem durch Wahlen korrigierbaren entzogen werden.

00:11:52: Konflikte entstehen im Zuge des Versuchs der Wiederanneignung dessen, was zuvor aus dem Bereich der Politik ausgelagert wurde.

00:12:00: Auf eben diese Krise mit noch mehr Konstituzionalisierung antworten zu wollen, wäre laut Mano der falsche Weg.

00:12:08: Vor diesem Hintergrund kritisiert Mano auch die gegenwärtige sozialwissenschaftliche Forschung.

00:12:14: Im Sinne der vorherrschenden Konzepte von Demokratie und Demokratiemessung ist eine Gefährdung der Demokratie durch ein Übermaß an liberalem Konstituzionalismus konzeptionell ausgeschlossen.

00:12:26: Obwohl sich, wenn seine Diagnose korrekt ist, tatsächlich gerade hieran die politischen Konflikte der Gegenwart oftmals entzünden.

00:12:36: Weiter kritisiert Mano, dass die Schnittstelle zwischen nationalstaatlicher Souveränität und suprstaatlichen Instanzen oft ausgeblendet wird.

00:12:45: Obwohl genau dort heute zentrale Konflikte der liberalen Demokratie angesiedelt sind.

00:12:51: Jede Institution kreiert Gewinner und Verlierer.

00:12:55: Es gibt gesellschaftliche Gruppen, die von einer Konstituzionalisierung des politischen Prozesses profitieren und solche, die dadurch an der Durchsetzung ihrer Interessen gehindert werden.

00:13:06: Die Konstituzionalisierung liegt im Interesse derer, die sich mit dem konstitutionellen Status quo verbunden fühlen und ihn als möglichst zeitlos darstellen möchten.

00:13:17: Nicht als aktuelle Erscheinungsform einer historisch spezifischen Entwicklung von Demokratie.

00:13:23: Sie betrachten Konstituzionalisierung als Antwort auf bzw.

00:13:27: als Schutz vor Populismus.

00:13:30: Es wäre jedoch politisch naiv, keinen Widerstand gegen eine solche neuartige Akteurskonstellation zu erwarten.

00:13:38: Somit stellt sich die Frage, ob es klug ist, auf Europas Krise der Rechtsstaatlichkeit mit noch mehr Recht und damit einer noch stärkeren Verschiebung des Gleichgewichts zwischen dem demokratisch veränderlichen und dem rechtlich unveränderlichen zu antworten.

00:14:00: Manostese, der Populismus, sei eine von der liberalen Demokratie durch ein Übermaß an Konstituzionalisierung selbst herangezüchtete Krankheit, deckt Lehrstellen im bisherigen Diskurs auf und stellt insofern einen wichtigen Beitrag dar.

00:14:16: Manu berücksichtigt allerdings nicht, dass es den autoritärpopulistischen Gegnern der Demokratie nicht nur um die Institutionen der liberalen Demokratie geht, sondern häufig um die Demokratie an sich.

00:14:29: Autoritäre Populisten wollen die Demokratie gemäß ihrer Vorstellung des wahren Volkes umbauen.

00:14:36: Die Verfassung zu schwächen oder zumindest nicht weiter zu stärken, stellt unter diesen Umständen ein Risiko dar, welches Manu nicht aufgreift.

00:14:45: In diesem Zusammenhang bleibt er auch den Beweis für seine These schuldig, politische Mehrheiten seien für antidemokratische Versuche sensibel, und zwar gerade dann, wenn es keine juristische Instanz gibt.

00:14:58: die darüber wacht.

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